TECHNISCHE DATEN

 

Land: Österreich 2016

Länge: 111 Min.

Format: DCP, 1,85: 1, Farbe

Sprache: Deutsch, Kärntnerisch mit deutschen UT

Drehorte: Oberdrauburg, Zwickenberg, Ötting, Nikolsdorf, Irschen, Hochstadel, Weißensee, Hochstein, Höferalm, Oberdrautal

Kinostart: 14. Oktober 2016

Verleih: Polyfilm

BEI TAG UND BEI NACHT wurde gefördert vom Österreichischen Filminstitut und durch das Film/Fernseh-Rahmenabkommen des ORF. 

 

Regiestatement

 

Das Zentrum des Films ist eine Arztpraxis in Oberdrauburg, Kärnten. Es ist das kommunikative Zentrum der Region, denn fast alle kommen irgendwann hierher. Wer zu schwach oder zu alt ist, um selbst zu kommen, den besucht der Doktor: Drei Wege führen in die umliegenden Berge der Gailtaler Alpen und Lienzer Dolomiten. Sie führen auf den Zwickenberg, den Schrottenberg und zum Hochstadel, die alle ohne Busanschluss sind. Will Hedwig Korber, eine Patientin und Protagonistin des Films, nach Oberdrauburg, so hat sie – falls sie niemand mitnimmt – einen dreistündigen Fußmarsch vor sich.

Die Lebenswelt der Bergbauern ist am Verschwinden. Sie können sich trotz aller Förderung kaum noch auf dem Markt behaupten, da sie der Globalisierung außer ihrer hartnäckigen Existenz nichts entgegensetzen können. Die meisten sind Nebenerwerbsbauern, die mit ihren Zweit- und Drittberufen versuchen, den bäuerlichen Betrieb zu erhalten, aus dem sie ihre Identität beziehen. Vor 100 Jahren lebten noch 70% der Österreicher von der Landwirtschaft, heute sind es nur noch 0,5 %. Im Film fungiert der Arzt als Bindeglied. Über ihn lernen wir die Menschen und ihren Alltag kennen. Trotz aller Vitalität und Solidarität hat diese ländliche Kultur wenig Zukunft. Das verleiht dem Film eine melancholische Grundstimmung. Er zeigt, wo Österreich herkommt und wodurch es bis heute geprägt wird: „Man muss die Dinge festhalten, bevor sie verschwinden.“ (Cézanne)

Es gibt verschiedene Möglichkeiten einen solchen Film zu drehen. Man kann einen Film machen, der über einen Kommentar alles erklärt und/oder Interviewpartner einsetzt, die man aufgrund der recherchierten Fakten aussucht. So läuft alles über das Wort. Eine andere Möglichkeit wäre, mit subjektivem Kommentar einen Essayfilm zu machen. Wieder regiert das Wort. Der gegenwärtige Dokumentarfilm ist überwiegend publizistisch und in der Formensprache vorhersehbar. Ich habe immer versucht, dem entgegenzuwirken, da ich der Ansicht bin, dass man, was das filmsprachliche Instrumentarium bietet, auch nutzen sollte. Man hat dann viel mehr Möglichkeiten, mit der filmischen Realität umzugehen: Licht, Ton, Geräusche, Musik, Wort, Kadrage, Bewegung, Perspektive etc. Dies ergibt eine tiefgründigere, genauere, wahrhaftige und poetischere Durchdringung der Wirklichkeit. Das Wort ist nur eines von vielen Gestaltungsmitteln.

Der Dokumentarfilm, wie ich ihn verstehe, ist eine Entdeckungsreise, die das Unvorhergesehene, Zufällige und Spontane zulässt. Wer eine solche Reise antritt, muss sich viel Zeit nehmen. Wir hatten 55 Drehtage, über vier Jahreszeiten hinweg, beginnend im Juni 2014.

Der Dokumentarfilm, wie ich ihn verstehe, entsteht ein zweites Mal und unter Umständen ganz neu am Schneidetisch (8 Monate Schnitt bei diesem Film), weil sich Möglichkeiten ergeben, die auch nicht annähernd beim Drehen angedacht werden. Aus Bildern und Tönen wird ein möglichst präzises und wahrhaftiges Bild der Realität komponiert. Damit bietet das Genre Dokumentarfilm Chancen, die der Spielfilm nur selten hat.

Manchmal ist es notwendig, externe Informationen, die wichtig sind, in den Film einzubringen. Unsere Lösung war, die Zwickenberger Schulkinder diese Informationen über Bergbauern und ländliche Strukturschwäche vorlesen zu lassen (siehe unten). Das ergibt einen Verfremdungseffekt, weil sich die Texte dem Verständnis der Kinder weitgehend entziehen.

Neben der publizistischen Überverdeutlichung und formalen Vereinfachung - alles muss erklärt werden, nichts wird der Fantasie des Zuschauers überlassen -, bin ich als Dokumentarfilmer mit den Quotenanforderungen der TV-Anstalten konfrontiert, die fast an jedem Dokumentarfilm finanziell beteiligt sind. Dagegen lässt sich heute gar nicht mehr argumentieren, weil so etwas wie eine stillschweigende Übereinkunft unter den Förderern und Geldgebern besteht, die die messbare Quote als einzigen Erfolgsparameter verinnerlicht haben. Es zählt fast nur die reine Unterhaltung. Typische Frage: Sie haben doch nichts gegen Unterhaltung? – Meine Antwort: Nein, wenn sie mit Haltung verbunden ist.

Bei dieser Produktion war es erstaunlicherweise anders. Sowohl die ORF-Redakteure Franz Grabner und Christian Riehs, als auch Roland Teichmann von der österreichischen Filmförderung ermunterten mich, nur auf die Qualität zu achten und ein möglichst genaues Panorama der Gegend einzufangen. Leider starb Franz Grabner einige Monate, bevor ich ihm den Rohschnitt zeigen konnte. Ein furchtbarer Verlust für die österreichische Dokumentarfilmszene. Er hatte Kreuz und quer mitbegründet und den Dokfilm-Sendeplatz am Sonntagabend initiiert und war ein verlässlicher Ansprechpartner für die Dokumentarfilmer. Es freut mich, dass der ORF Franz Grabner durch die nach ihm benannten Preise für Dokumentarfilme und Dokumentationen in Erinnerung behält.

 

Interview mit Hans Andreas Guttner

 

Was war die Motivation für diesen Film?

 

Ich bin in dem Bergbauerndorf Feld am See im Kärntner Gegendtal aufgewachsen, ein Tal ohne Zugverkehr. Es war so eng, dass ins Tal keine Eisenbahntrasse gebaut werden konnte.

Nach Jahrzehnten der Abwesenheit bin ich nach Kärnten zurückgekehrt, um den Film BEI TAG UND BEI NACHT zu realisieren. Seit meiner Kindheit hat sich die Lebenswelt der Bergbauern grundlegend verändert, ihre Zahl ist dramatisch zurückgegangen, die Zukunft sieht düster aus. Die ländliche Infrastruktur (Arzt, Schule, Handwerker, Läden, Post, Banken etc.) wird immer rudimentärer, Geisterorte entstehen.

Ich wollte die Lebensweise der Bergbauern dokumentieren, bevor sie verschwindet. Da mein Bruder Martin in Oberdrauburg eine Landarztpraxis betreibt, hatte ich einen idealen Ausgangspunkt für den Film. Die Arztpraxis ist nämlich gewissermaßen das kommunikative Zentrum, in dem sich alles trifft. Wenn ich was erfahren wollte, musste ich mich nur in den Wartesaal setzen. Hier wurden die Dinge, die den Ort und die Menschen betrafen, durchgesprochen. Der Zufall wählte dann unsere wichtigsten Protagonisten aus.

 

Was hat sich seit deiner Kindheit auf dem Land verändert?

 

Damals war das eine enge provinzielle Welt. Ich war der einzige, der mit dem Bus ins Gymnasium, nach Villach, die nächste Stadt, fuhr. Heute gehen viele Bergbauernkinder aufs Gymnasium. Überhaupt hat sich durchs Fernsehen und durchs Internet die Situation total geändert, was den Zugang zu Informationen betrifft. Ich habe in Zwickenberg über David Lynch diskutiert.

 

Zwischen dem, was man sich vorstellt und was man wirklich vorfindet, besteht oft eine Diskrepanz. Wie war das bei Ihnen?

 

Die Bergbauern, kann man sagen, trotzen der Globalisierung durch ihre schiere Existenz. Denn ökonomisch betrachtet bringt die Landarbeit nicht genügend ein. Überrascht hat mich daher, dass niemand über sein Leben geklagt hat. Stattdessen fand ich Menschen, die vital, solidarisch, gastfreundlich und humorvoll waren. Es hat sich dort eine Lebensweise erhalten, die uns Großstädtern mit unserem übersteigerten Individualismus und seinen negativen Auswirkungen viel voraushat. Die Gemeinschaft funktioniert, die Solidarität ist erstaunlich, gegenseitige Hilfe selbstverständlich. Der Film zeigt aber keine Idylle. Die Selbstversorgung spielt bis heute eine wichtige Rolle, Beeren, Pilze und Kräuter, auch Heilkräuter werden gesammelt. Die Leute sind es gewohnt, besonders im Winter tageweise von der Welt abgeschnitten zu sein. Da braucht man Vorräte. Das gilt übrigens auch für die Medikamente, die der Doktor vorbeibringt.

 

Was waren die größten Herausforderungen beim Drehen?

 

Das Wetter. Die größte Herausforderung war das Wetter, denn in den Jahren zuvor gab es das nicht: kein Sommer, kein Herbst, kürzester Winter mit wenig Schnee, in einer Gegend die sonst tagelang zugeschneit ist. Wir waren immer bereit, und als es zum ersten Mal schneite, waren wir zur Stelle.

 

Durch die Globalisierung hat der Begriff Heimat neue Bedeutung erlangt?

 

Eine große Rolle spielt im Film die kleine Ortschaft Zwickenberg mit 200 Einwohnern. Auf einer Terrasse sehr schön gelegen, hat sich hier eine Gemeinschaft erhalten, die funktioniert. Abgelegen, ohne Busverkehr, und uninteressant für die ökonomische Verwertung, ist dies der einzige Ort, den ich kenne, wo ich keine Werbetafel gefunden haben. Es gibt zwar keine Schule mehr, aber fürs Spirituelle eine Kirche und fürs Weltliche zwei Gasthäuser. Die Identität als Bergbauer, auch wenn man nur zwei oder acht Kühe hat, ist den Menschen so wichtig, dass der Satz gegen alle Statistik: „Uns wird es hier immer geben“, wohl stimmt. Hier macht das Wort Heimat ohne ideologische Überhöhung noch einen Sinn.

 

Wie bist du mit dem Klischee des Bergdoktors umgegangen?

 

Klischees und Stereotypen entgeht man, indem man die Realität möglichst genau und wahrhaftig zeigt. Man lässt sich Zeit und geht auf die Menschen ein. Das Alltägliche dominiert. Ich konnte den Film so machen, wie ich ihn wollte. Es gab keine Einsprüche.

 

BEI TAG UND BEI NACHT ist ein poetischer Dokumentarfilm. Was kann der poetische Dokumentarfilm im Unterschied zum publizistischen leisten?

 

Er kann ein verdichtetes Bild der Realität liefern, ohne viel Worte zu machen, das heißt, er überlässt es dem Zuschauer, zu beurteilen oder zu interpretieren, was er sieht und hört. Kein Kommentar, keine talking heads nehmen einen bei der Hand und drängen einem eine bestimmte Sichtweise auf. Der poetische Dokumentarfilm vermag etwas ganz Eigenes: Durch eine komplexe Montage entwerfen die Filme ein genaueres, authentischeres, in die Tiefe gehendes Bild unserer Welt, das sich der vordergründigen Aktualität entzieht. Sie gründen in der Existenz des Menschen und richten sich bewusst gegen die Kurzlebigkeit des Aktuellen. Man kann sie sich auch noch nach Jahrzehnten ansehen, weil sie ihre Aussagekraft nicht verlieren. Die meisten publizistischen Dokumentarfilme sind im Aktualitätskäfig gefangen und nach kurzer Zeit überholt. BEI TAG UND BEI NACHT ist der klassische Fall eines poetischen Dokumentarfilms. Die richtigen Bilder treffen auf die richtigen Töne, in der richtigen Zeit.

  

 

Die Kinder von Zwickenberg

 

Manuel

Die Landflucht ist unaufhaltsam trotz der gegenläufigen Bewegung von Großstädtern hinaus ins Ländliche.

 

Sebastian

In den Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg wurden 1750 Postfilialen geschlossen.

 

Markus

In den letzten 70 Jahren sind rund 2600 Gemeinden verschwunden, zusammengelegt, aufgelöst.

 

Elena

Die Produktivität liegt im Alpenraum um fast ein Viertel und das Einkommen aus der Landwirtschaft um fast ein Fünftel niedriger als im nichtalpinen Bereich. Bei Bergbauernbetrieben mit besonders hohen Erschwernissen sogar nur bei 60 Prozent.

 

Elisa

Rund 39 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe in Österreich sind als Bergbauernbetriebe klassifiziert. In Kärnten sind es 47 Prozent.

 

Martin

Auf das Bergland entfallen fast 58 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche.

 

Leonie 

Die ungünstige natürliche Lage der Bergbauernbetriebe kommt vor allem durch die starke Hanglage der Wirtschaftsflächen, kürzere Vegetationsdauer, extreme Witterungsverhältnisse und einen Mangel an alternativen Produktions-und Erwerbsmöglichkeiten zum Ausdruck.